»Zieh dich nicht zurück, ich verliere mich sonst!« – Die stille Dramatik von Näheangst und Rückzug

Bezie­hun­gen wir­ken manch­mal wie ein Tanz – ein Tanz, bei dem zwei Men­schen mit geschlos­se­nen Augen ver­su­chen, nicht zu stol­pern. Die eine Per­son macht einen Schritt nach vorn, die ande­re weicht zurück. Nicht, weil sie nicht mit­ein­an­der tan­zen wol­len. Son­dern weil bei­de ver­su­chen, sich selbst nicht zu verlieren.

Die­se Dyna­mik zeigt sich häu­fig, wenn ein eher »ängst­lich-ambi­va­len­ter« Bin­dungs­stil auf einen »ver­mei­den­den« trifft.


Zwei unter­schied­li­che Schutzstrategien

  • Die eine Sei­te sehnt sich nach Nähe, Kon­takt, Rück­mel­dung – beson­ders dann, wenn Unsi­cher­heit auf­taucht. Dahin­ter steht oft die Angst: »Bin ich dir wirk­lich wichtig?«
  • Die ande­re Sei­te braucht Rück­zug, Distanz, Ruhe – beson­ders dann, wenn es emo­tio­nal wird. Dahin­ter steckt oft: »Ich darf nicht ver­sa­gen. Ich darf nicht zu viel sein. Ich muss mich schützen.«

Bei­de han­deln aus Angst. Nur sehen die­se Ängs­te unter­schied­lich aus. Und bei­de suchen eigent­lich das­sel­be: Sicher­heit und Ver­bin­dung. Aber sie spre­chen ver­schie­de­ne Sprachen.


Fall­bei­spiel: Zwei Men­schen in einem bekann­ten Muster

Eine Per­son schreibt spät abends: »War­um mel­dest du dich nie von selbst? Ich füh­le mich nicht gesehen.«

Die ande­re liest – und fühlt sich sofort unter Druck. Ein inne­res Zie­hen beginnt: »Ich kann es nie rich­tig machen.« Die Ant­wort kommt kurz ange­bun­den: »Ich hab gera­de viel um die Ohren.«

Dann folgt: Funkstille.

Die schrei­ben­de Per­son grü­belt, fühlt sich allein gelas­sen. »Jetzt wer­de ich igno­riert, weil ich mich geöff­net habe. Ich war wohl zu viel.« Beim nächs­ten Kon­takt ist die Stim­me kühl, viel­leicht sogar anklagend.

Die ande­re Per­son spürt das – und zieht sich noch mehr zurück. »Ich habe nichts falsch gemacht – und wer­de trotz­dem kritisiert.«

Was hier geschieht, ist kei­ne Bös­wil­lig­keit. Son­dern ein ver­trau­ter Schutzmechanismus.

  • Nähe wird zur Bedro­hung für die eine Seite.
  • Distanz wird zur Bedro­hung für die andere.

Ein kur­zer Halt – bevor du dem ande­ren »einen Stil gibst«

Viel­leicht hast du beim Lesen ein inne­res Aha-Erleb­nis gehabt: »Aha, mein Gegen­über ist also ein klas­si­scher Ver­mei­der – kein Wun­der, dass das so schwie­rig ist.« Und ja, psy­cho­lo­gi­sches Ver­ste­hen kann ent­las­ten. Aber Ach­tung: Das Eti­kett »ver­mei­dend« wird schnell zum Urteil. Vie­le hören dar­in nicht Erklä­rung, son­dern: Kritik.

»Mit dir stimmt etwas nicht. Du bist beziehungsunfähig.«

Für Men­schen mit ver­mei­den­dem Bin­dungs­stil ist das wie Salz auf eine alte Wun­de: die Angst, nicht zu genü­gen, über­for­dert zu sein oder falsch gese­hen zu werden.

🔹 Des­halb: Nut­ze dein Wis­sen wie einen inne­ren Kom­pass – nicht wie ein Eti­kett, das du dem ande­ren aufklebst.

🔹 Frag dich lie­ber: »Was brau­che ich – und wie kann ich das aus­drü­cken, ohne zu ana­ly­sie­ren oder zu verletzen?«

Denn ech­te Ver­bin­dung ent­steht nicht durch Ana­ly­se. Son­dern durch Mut zur Echt­heit – auf bei­den Sei­ten. In einem kom­men­den Bei­trag wid­me ich mich genau die­ser Fra­ge: Wie wir unser Bin­dungs­wis­sen nut­zen kön­nen, ohne den ande­ren zu patho­lo­gi­sie­ren oder uns in der Ret­ter­rol­le zu verlieren.


Wie lässt sich die­ser Tanz verändern?

1. Ver­ste­hen, dass bei­de Sei­ten Schutz brauchen

Was wie Vor­wurf klingt, ist oft ein Aus­druck von Angst. Was wie Rück­zug wirkt, ist oft ein Bedürf­nis nach Selbstschutz.

2. Spra­che fin­den für das, was innen geschieht

Statt: »Nie mel­dest du dich!«
Eher: »Wenn ich län­ger nichts von dir höre, wer­de ich unru­hig. Ich mer­ke, wie wich­tig mir Ver­bin­dung ist.«

Statt: »Du bist so emp­find­lich!«
Eher: »Wenn du sehr emo­tio­nal wirst, spü­re ich in mir einen Impuls zu flie­hen. Das ist kei­ne Ableh­nung – eher eine Überforderung.«

3. Struk­tur geben: Nähe UND Raum zulassen

  • Rück­zug ist okay – wenn er kom­mu­ni­ziert wird:
    »Ich brau­che gera­de Ruhe, aber ich bin nicht weg. Ich mel­de mich heu­te Abend.«
  • Nähe ist erlaubt – wenn sie als Bedürf­nis for­mu­liert wird:
    »Ich seh­ne mich nach einem Moment, in dem wir ein­fach bei­ein­an­der sind.«

Ein Spick­zet­tel für her­aus­for­dern­de Momente

Beob­ach­tung: »Wenn du … (z. B. dich nicht mel­dest / dich zurück­ziehst) …«
Gefühl: »… füh­le ich mich … (z. B. ver­un­si­chert / allei­ne) …«
Bedürf­nis: »… weil ich mir … (z. B. Ver­bin­dung / Sicher­heit) … wün­sche.
Bit­te: »… könn­test du … (z. B. mir sagen, wann du wie­der offen bist für ein Gespräch)?«


Refle­xi­ons­fra­gen für beide:

  • Wann zie­he ich mich zurück? Was schützt mich in die­sem Moment?
  • Wann drän­ge ich auf Nähe? Was befürch­te ich, wenn ich sie nicht bekomme?
  • Wie könn­te ich beim nächs­ten Mal mei­ne Angst in ein Bedürf­nis übersetzen?

Fazit:

Die Dyna­mik zwi­schen Nähe­be­dürf­nis und Rück­zug ist kein Bezie­hungs­feh­ler. Sie ist ein Über­bleib­sel alter Über­le­bens­stra­te­gien – geprägt durch Erfah­rung, geprägt durch Schutz.

Aber: Bezie­hun­gen dür­fen heu­te anders gelebt wer­den. Dort, wo Angst bis­her gespro­chen hat, darf Ehr­lich­keit ihren Platz ein­neh­men. Dort, wo Rück­zug war, darf ein Schritt auf­ein­an­der zu ent­ste­hen. Nicht auf ein­mal. Son­dern Schritt für Schritt. Wie bei einem Tanz, der mit der Zeit siche­rer wird.


Titel­bild erstellt mit Midjourney

PikBube
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.