Beziehungen wirken manchmal wie ein Tanz – ein Tanz, bei dem zwei Menschen mit geschlossenen Augen versuchen, nicht zu stolpern. Die eine Person macht einen Schritt nach vorn, die andere weicht zurück. Nicht, weil sie nicht miteinander tanzen wollen. Sondern weil beide versuchen, sich selbst nicht zu verlieren.
Diese Dynamik zeigt sich häufig, wenn ein eher »ängstlich-ambivalenter« Bindungsstil auf einen »vermeidenden« trifft.
Zwei unterschiedliche Schutzstrategien
- Die eine Seite sehnt sich nach Nähe, Kontakt, Rückmeldung – besonders dann, wenn Unsicherheit auftaucht. Dahinter steht oft die Angst: »Bin ich dir wirklich wichtig?«
- Die andere Seite braucht Rückzug, Distanz, Ruhe – besonders dann, wenn es emotional wird. Dahinter steckt oft: »Ich darf nicht versagen. Ich darf nicht zu viel sein. Ich muss mich schützen.«
Beide handeln aus Angst. Nur sehen diese Ängste unterschiedlich aus. Und beide suchen eigentlich dasselbe: Sicherheit und Verbindung. Aber sie sprechen verschiedene Sprachen.
Fallbeispiel: Zwei Menschen in einem bekannten Muster
Eine Person schreibt spät abends: »Warum meldest du dich nie von selbst? Ich fühle mich nicht gesehen.«
Die andere liest – und fühlt sich sofort unter Druck. Ein inneres Ziehen beginnt: »Ich kann es nie richtig machen.« Die Antwort kommt kurz angebunden: »Ich hab gerade viel um die Ohren.«
Dann folgt: Funkstille.
Die schreibende Person grübelt, fühlt sich allein gelassen. »Jetzt werde ich ignoriert, weil ich mich geöffnet habe. Ich war wohl zu viel.« Beim nächsten Kontakt ist die Stimme kühl, vielleicht sogar anklagend.
Die andere Person spürt das – und zieht sich noch mehr zurück. »Ich habe nichts falsch gemacht – und werde trotzdem kritisiert.«
Was hier geschieht, ist keine Böswilligkeit. Sondern ein vertrauter Schutzmechanismus.
- Nähe wird zur Bedrohung für die eine Seite.
- Distanz wird zur Bedrohung für die andere.
Ein kurzer Halt – bevor du dem anderen »einen Stil gibst«
Vielleicht hast du beim Lesen ein inneres Aha-Erlebnis gehabt: »Aha, mein Gegenüber ist also ein klassischer Vermeider – kein Wunder, dass das so schwierig ist.« Und ja, psychologisches Verstehen kann entlasten. Aber Achtung: Das Etikett »vermeidend« wird schnell zum Urteil. Viele hören darin nicht Erklärung, sondern: Kritik.
»Mit dir stimmt etwas nicht. Du bist beziehungsunfähig.«
Für Menschen mit vermeidendem Bindungsstil ist das wie Salz auf eine alte Wunde: die Angst, nicht zu genügen, überfordert zu sein oder falsch gesehen zu werden.
🔹 Deshalb: Nutze dein Wissen wie einen inneren Kompass – nicht wie ein Etikett, das du dem anderen aufklebst.
🔹 Frag dich lieber: »Was brauche ich – und wie kann ich das ausdrücken, ohne zu analysieren oder zu verletzen?«
Denn echte Verbindung entsteht nicht durch Analyse. Sondern durch Mut zur Echtheit – auf beiden Seiten. In einem kommenden Beitrag widme ich mich genau dieser Frage: Wie wir unser Bindungswissen nutzen können, ohne den anderen zu pathologisieren oder uns in der Retterrolle zu verlieren.
Wie lässt sich dieser Tanz verändern?
1. Verstehen, dass beide Seiten Schutz brauchen
Was wie Vorwurf klingt, ist oft ein Ausdruck von Angst. Was wie Rückzug wirkt, ist oft ein Bedürfnis nach Selbstschutz.
2. Sprache finden für das, was innen geschieht
Statt: »Nie meldest du dich!«
Eher: »Wenn ich länger nichts von dir höre, werde ich unruhig. Ich merke, wie wichtig mir Verbindung ist.«
Statt: »Du bist so empfindlich!«
Eher: »Wenn du sehr emotional wirst, spüre ich in mir einen Impuls zu fliehen. Das ist keine Ablehnung – eher eine Überforderung.«
3. Struktur geben: Nähe UND Raum zulassen
- Rückzug ist okay – wenn er kommuniziert wird:
»Ich brauche gerade Ruhe, aber ich bin nicht weg. Ich melde mich heute Abend.« - Nähe ist erlaubt – wenn sie als Bedürfnis formuliert wird:
»Ich sehne mich nach einem Moment, in dem wir einfach beieinander sind.«
Ein Spickzettel für herausfordernde Momente
Beobachtung: »Wenn du … (z. B. dich nicht meldest / dich zurückziehst) …«
Gefühl: »… fühle ich mich … (z. B. verunsichert / alleine) …«
Bedürfnis: »… weil ich mir … (z. B. Verbindung / Sicherheit) … wünsche.
Bitte: »… könntest du … (z. B. mir sagen, wann du wieder offen bist für ein Gespräch)?«
Reflexionsfragen für beide:
- Wann ziehe ich mich zurück? Was schützt mich in diesem Moment?
- Wann dränge ich auf Nähe? Was befürchte ich, wenn ich sie nicht bekomme?
- Wie könnte ich beim nächsten Mal meine Angst in ein Bedürfnis übersetzen?
Fazit:
Die Dynamik zwischen Nähebedürfnis und Rückzug ist kein Beziehungsfehler. Sie ist ein Überbleibsel alter Überlebensstrategien – geprägt durch Erfahrung, geprägt durch Schutz.
Aber: Beziehungen dürfen heute anders gelebt werden. Dort, wo Angst bisher gesprochen hat, darf Ehrlichkeit ihren Platz einnehmen. Dort, wo Rückzug war, darf ein Schritt aufeinander zu entstehen. Nicht auf einmal. Sondern Schritt für Schritt. Wie bei einem Tanz, der mit der Zeit sicherer wird.
Titelbild erstellt mit Midjourney